»Morbide und gruselige Atmosphäre« – 29. Januar 2007 / Wiesbadener Kurier

Wiesbadener Kurier, 29.01.2007
Morbide und gruselige AtmosphäreEhemaliges Rotlichtviertel bietet passenden Rahmen für den improvisierten Krimi „Rotecke“Vom 29.01.2007 WIESBADEN Als Startschuss für die Umbaumaßnahmen in der Kleinen Schwalbacher hat sich die Stadtentwicklungsgesellschaft etwas Besonderes einfallen lassen: Die Gasse diente dem Improvisationstheater Subito als Kulisse. Der Kurier hatte dazu 80 Karten unter seinen Lesern verlost.

Von Martina Meisl

„Wenn man sich vorstellt, was sich hinter diesen Mauern einmal abgespielt hat…“ Faszinierte Blicke wandern über die bröckelnden Fassaden und Balkone in der sonst so dunklen Häuserschlucht, die an diesem Abend perfekt ausgeleuchtet ist. Der Anblick setzt die Phantasie der Kurier-Gewinner in Gang. Und manch einer nimmt vielleicht zum ersten Mal bewusst die interessante Bausubstanz wahr. „Das sind tolle Häuser, aus denen man wirklich etwas machen kann“, staunt Kurier-Leserin Susanne Laese. „Sonst guckt man ja nie hoch“, sagt die Wiesbadenerin, die bisher nur ab und an schnell hier durchgelaufen ist, „und dann immer mit einem komischen Gefühl“.

Mörderisch gut: Das Improvisationstheater Subito nutzte die Kulisse für seine Krimi-Vorstellung. Fotos: wita/Stotz
Angetan vom Abend und vom bevorstehenden Wechsel in der langjährigen Schmuddelgasse: Die Kurier-Leser Steven Tuto und Susanne Laese, zwei der 80 Gewinner von Eintrittskarten.
Lebhafte Erinnerungen an die unrühmliche Vergangenheit der Schmuddelecke hat Steven Tuto. „Ich war früher oft hier“, bekennt der in Wiesbaden lebende Amerikaner – um kurz darauf aufzuklären: „Als Militärpolizist habe ich öfter meine Leute da raus geholt.“Anlieger wie Eva und Andreas Voigtländer, Inhaber von Hut Mühlenbeck, sind sehr froh, dass die Tage der Kleinen Schwalbacher als Treffpunkt für Kiffer und Dealer von nun an vorbei sind. Die dunkle Gasse habe ihr regelrecht Angst gemacht, sagt Eva Voigtländer. Ihr Mann Andreas hat immer wieder verwundert beobachtet, wie sich manche Menschen von der „morbiden und gruseligen Atmosphäre“ geradezu angezogen fühlten. So geht es offenbar auch Jens Haker. „Die Ecke fand ich schon immer klasse“, gibt er zu und meint: „Eigentlich schade, dass sie in dieser Form verschwindet.“ Die heruntergekommene Gegend habe Wiesbaden einen Hauch von großstädtischem Ambiente verliehen, findet Haker, der lange in Berlin gewohnt hat. Barbara Otte-Haker dagegen war noch nie hier und freut sich, dass das ehemalige Rotlichtviertel nun aufgewertet wird.“Man fühlt sich in einen alten Durbridge-Film versetzt“, schwärmt Bürgermeister Helmut Müller, so froh er auch ist, dass sich nach mehr als 20 Jahren endlich etwas tut: „Ein historischer Moment.“Dieser Ambivalenz zwischen Aufbruchstimmung und Wehmut trägt die Stadtentwicklungsgesellschaft SEG Rechnung, indem sie der Gasse in ihrer alten Gestalt noch einen letzten Auftritt gönnt: Als Kulisse für ein Theaterstück – und was wäre für diesen Ort besser geeignet als ein Krimi?

In dem improvisierten Stück „Rotecke“ lassen die Schauspieler von Subito allerlei zwielichtige Gestalten aufmarschieren, die von den Zuschauern mit Namen, Berufen und eigenartigen Hobbys wie dem Sammeln von Knöpfen ausgestattet werden. Die Handlung entwickelt sich während der Aufführung. Ein spannendes Spiel auch für die Akteure, denn die Identität des Mörders kennt bis zum Schluss nur er selbst.

Als Bühne dient der Platz vor dem Haus Nummer 14, in das die Hepa Kaffee-Rösterei einziehen wird. „Genau hier wurde damals die Unterwelt-Größe Mustafa Shikane erschossen“, offenbart SEG-Geschäftsführer Andreas Guntrum dem Publikum und jagt damit dem einen oder anderen leichte Schauer über den Rücken.

Für die Gestaltung des außergewöhnlichen Events hat die SEG das Design- und Architekturbüro von Michael Müller und Ralf Teschauer gewinnen können, deren Entwurf für den Architekturwettbewerb übrigens auf dem zweiten Platz gelandet ist. Unter Hochdruck und Michael Müllers Regie verwandelte sich die Kleine Schwalbacher innerhalb von zwei Tagen in ein Theater. Heizpilze und bunte Scheinwerfer wurden aufgestellt, die Zugänge von beiden Seiten mit elf Meter hohen Tüchern verhängt – in rot, der Symbolik wegen. „Bis gestern Mittag standen noch die Bagger hier drin“, berichtet der Designer und lobt die „Energieleistung“ aller Beteiligten. Gewissermaßen in letzter Minute seien die Bürgersteige herausgerissen worden, um Platz für die 100 Zuschauer zu schaffen. Die wärmten sich nach der spannenden Mörderjagd im Zelt und lauschten zufrieden mit dem ungewöhnlichen Straßen-Abend der entspannten Darbietung von Tom Woll und den Blueslovers. Keine Frage, dass noch eine Menge Neugierige zusätzlich von der Musik in der Gasse angelockt wurden.

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